Es ist doch immer wieder erstaunlich, über welch tiefschürfende philosophische Kenntnisse manche Mitmenschen verfügen, von denen man es gar nicht erwarten würde. In dieser Hinsicht verblüfft wurde ich neulich, als ich mit meiner Cousine, ihrem Mann und meiner Tante beim Italiener essen war. Nach ausgiebigem Studium der Speisekarte teilten wir der Serviererin in unmissverständlichem Deutschitalienisch und unter zusätzlicher Nennung der in der Speisekarte aufgeführten Nummern der Gerichte unsere Bestellungen mit, ohne zu ahnen, dass wir es mit einer im sokratischen Dialog bewanderten Fachkraft zu tun hatten.
Das Essen ließ nicht lange auf sich warten und so machten wir uns schon bald freudig über unsere Teller her. Hochzufrieden verspeisten meine Tante und ich unsere Nudeln in Gorgonzolasauce. Und auch der Salat an Hähnchenbrustfilets, den meine Cousine bestellt hatte, ließ nichts zu wünschen übrig. Nur der Mann meiner Cousine stimmte nicht in unsere Lobgesänge ein, sondern stocherte auffallend stumm in seinem Teller herum. »Was ist?«, fragten wir zwischen zwei Bissen. - »Ich vermisse bei meiner Pasta die Kalbsfiletstückchen«, erwiderte der eingefleischte Carnivore mit säuerlicher Miene. Im vollsten Verständnis für seinen Unmut unterbrachen wir unser Essen und winkten die Serviererin herbei.
Beflissen eilte diese an unseren Tisch und blickte fragend vom einen zum anderen. Höflich klärte der Mann meiner Cousine sie darüber auf, dass er Pasta casa mia mit Kalbsfiletstückchen bestellt habe, die Nudeln auch sehr lecker seien, er aber kein einziges Stück Fleisch im Gericht finden könne.
Auf der Stirn der Serviererin bildete sich eine steile Falte, bevor sie zu ihrer philosophischen Erwiderung ansetzte: »Warum nicht?«, fragte sie. Offenbar war sie der Ansicht, es sei Aufgabe des Mannes meiner Cousine herauszufinden, warum seine Pasta anders als in der Speisekarte aufgeführt, keine Fleischstücke enthielt oder ob er vielleicht einem Denkfehler unterliege. Von dieser sokratischen Frage völlig überrumpelt, fiel diesem auf Anhieb keine passable Antwort ein. Auch wir drei Frauen waren sprachlos ob dieser hochtrabend philosophischen Gesprächsführung.
Wie nahezu perfekt die Serviererin die Kunst des sokratischen Dialogs beherrschte, ihr Gegenüber durch eine geschickt formulierte Frage dazu zu bringen, tiefere Einsichten in seine offensichtlich irrigen Annahmen zu gewinnen, stellte sie kurze Zeit später beim Kassieren erneut unter Beweis. »Da steht ja Pasta siciliana und nicht Pasta casa mia«, rief der Mann meiner Cousine aus, als sie ihm die Rechnung vorlegte. - »Ist das ein Problem?« so die philosophisch versierten Restaurantfachkraft. »Der Preis ist doch derselbe.«