Der alte Mann sah ihm interessiert zu. »Wie heißt du denn?«, erkundigte er sich.
»Tobias«, murrte das schmächtige Kerlchen, in der Hoffnung, der Alte würde ihn in Ruhe lassen, wenn er ihm seinen Namen verriet.
»Tobias«, murmelte der Alte. »Ein hübscher Name.«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Kann schon sein. Aber ich muss jetzt heim, meiner Mutter das Holz bringen, damit wir es über die Weihnachtstage warm haben.« Entschlossen packte er die Griffe des Schubkarrens und bemühte sich, seine Fracht durch den Hof Richtung Straße zu bugsieren. Doch schon nach wenigen Metern geriet er mit seiner schweren Ladung auf dem rutschigen Untergrund ins Schlingern und der Karren kippte ein weiteres Mal um.
»Mist, verdammt!« Wütend trat er vor die leere Stahlwanne, während sich seine Augen gegen seinen Willen erneut mit Tränen füllten.
Mitleidig betrachtete der alte Mann den tapferen Jungen, dessen ganzes Erscheinungsbild ärmlich wirkte. Neben der zerschlissenen Jacke trug er eine dunkelblaue viel zu kurze Hose, die bereits mehrfach geflickt worden war, und an den Füßen ein Paar ausgefranste Turnschuhe, die den eisigen Temperaturen kaum standhalten konnten. Und wie aufs Stichwort fing der Knabe an, vor Kälte mit den Zähne zu klappern.
»Was hältst du davon, wenn du erst einmal mit zu mir kommst und dich bei einer heißen Schokolade und einem Bratapfel aufwärmst?«, fragte der alte Mann. »Und danach kümmern wir uns darum, dein Holz nach Hause zu schaffen.« Aufmunternd sah er den Jungen an.
Tobias dachte nach. Die Aussicht auf eine heiße Schokolade und einen duftenden Bratapfel erschien ihm ungemein verlockend. Doch er kannte den Mann ja kaum. Was, wenn er nicht so gütig war, wie er tat? Eine Weile rang Tobias mit sich, aber sein Hunger und sein Wunsch, sich aufzuwärmen, waren größer als seine Angst und so willigte er ein. »Na schön. Aber ich darf meine Mama nicht zu lange warten lassen. Sie macht sich sonst große Sorgen.«
»Natürlich.« Der alte Mann lächelte verständnisvoll. »Komm, lass uns gehen, sonst holst du dir noch den Tod bei dem Wetter.«
Gemeinsam verließen die beiden den düsteren Hof. Inzwischen waren die Straßen menschenleer. Das ungemütliche Schneetreiben hatte aufgehört und eine friedliche Atmosphäre lag über dem Dorf. Die Häuser und Wohnungen rings herum waren hell erleuchtet und Tobias fiel zum ersten Mal an diesem Tag auf, dass es überall nach Weihnachten duftete.
»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte er, als sie zusammen über den Gehweg marschierten.
»Verzeih! Wie unhöflich von mir. Gestatten, . . .« Der alte Mann deutete eine galante Verbeugung an und lupfte seine Melone; eine Handvoll Schnee rieselte herab und gesellte sich zu der grauweißen Masse zu seinen Füßen, »mein Name ist Jahwe.«
»Jahwe?« Tobias kicherte. Einen solch komischen Namen hatte er noch nie gehört. Zugleich amüsierten ihn die drollig-höflichen Manieren seines Begleiters.
»Er stammt aus dem Alten Testament und bedeutet ˃ich bin da˂.«
Ich bin da? Tobias sah Jahwe entgeistert an. Er hatte wohl schon vom Alten Testament gehört, wusste aber nur, dass es irgendetwas mit der Bibel und mit Gott zu tun hatte. Aber warum Namen dort eine Bedeutung hatten, erschloss sich ihm nicht. Doch er wagte nicht, nachzufragen, aus Angst, der Alte könne ihn für dumm halten.
Neugierig musterte er Jahwe von der Seite, als sie ihren Weg fortsetzten. Sein Begleiter war etwa doppelt so groß wie er und von schlanker Statur. Er trug einen gepflegten, halblangen Bart, der, anders als sein Haar, nicht weiß, sondern graumeliert war. Sein Alter konnte Tobias schlecht schätzen. Hatte er bis eben noch gemeint, er habe es mit einem Greis zu tun, erschien ihm Jahwe, jetzt, wo er ihn sich genau betrachtete, viel jünger, ja, beinahe alterslos. Oder lag es nur daran, dass er keine Falten hatte? Das Gesicht seines Großvaters jedenfalls, der letztes Jahr an einem Schlaganfall gestorben war, war voller Runzeln gewesen.
»Wie weit ist es noch?«, erkundigte er sich. Er fror noch immer erbärmlich, auch wenn die Bewegung seinen steifen, kalten Gliedern guttat.
»Gleich dort vorne ist es.« Jahwe deutete mit seinem Stock die Straße entlang.
»Das große Haus da, am Ende der Straße?«
»Nein, rechts davon.«
Verwundert runzelte Tobias die Stirn. Er ging diesen Weg jeden Morgen, wenn er zur Schule musste, und war sich sicher, dass es rechts von der Sackgasse, auf der sie liefen, keine Häuser mehr gab, sondern lediglich einen großen unbebauten Acker.
Doch als sie das Ende der Straße erreichten, und er sich nach rechts wandte, war ihm, als würde er träumen. Ein nahezu mystischer Anblick tat sich vor ihm auf: Uralte, mächtige Bäume mit dicken, knorrigen Ästen, die miteinander verflochten waren wie ineinander verschränkte Finger, säumten eine Gasse, die der Winterhimmel in ein magisches Licht tauchte. Die dunklen Schatten, die durch das Astwerk auf die reinweiße Decke aus Puderschnee fielen, muteten ein wenig gespenstisch an, wie geisterhafte Erscheinungen, die zwischen den Bäumen hin und her huschten.
Nach einigem Zögern folgte Tobias Jahwe durch die märchenhafte Allee, bis sie hinter einer Biegung, verborgen zwischen hohen Tannen, auf einen winzigen, windschiefen Fachwerkbau stießen. In den Fenstern funkelten unzählige Sterne, während hell erleuchtete Fackeln den Weg zur hölzernen Eingangstür wiesen.
Das Haus strahlte etwas derart Einladendes aus, dass Tobias wie von einer unsichtbaren Kraft angezogen darauf zusteuerte. Ehrfürchtig näherte er sich dem lebensgroßen Hirsch, der mit seinem imposanten Geweih fast den gesamten Vorgarten einnahm.
»Ist der echt ..., ich meine, . . . lebt der?«, stotterte er und hob zaghaft die Hand. Es reizte ihn, das samtig weiche Fell zu berühren.
»Er ist so lebendig, wie du ihn dir denkst«, antwortete Jahwe sybillinisch. »Aber nun komm herein. Meister Abraham erwartet uns schon«, forderte er Tobias auf.
»Wer?« Tobias folgte seinem Gastgeber, wobei er den Blick nicht vom Hirsch lassen konnte. Er hätte schwören können, dass dieser sie mit den Augen verfolgte und ihm zuzwinkerte.
Kaum, dass er über die Schwelle des Fachwerkhäuschens getreten war, warteten jedoch schon die nächsten Überraschungen auf ihn. Eine große Tanne, geschmückt mit roten und goldenen Kugeln, glitzernden Zapfen und Lametta zierte die Mitte des Raums. Vor dem Baum stand ein hölzernes Schaukelpferd, das sachte hin und her wippte, als hätte eben noch jemand auf ihm gesessen. Um den Stamm der Tanne herum drehte eine Modelleisenbahn ihre Runden. Die Kerzen, die auf den Zweigen steckten, waren entzündet und tauchten das Zimmer in ein gemütliches Licht, während das Feuer im Kamin eine behagliche Wärme verbreitete.
Tobias Blick wanderte über die dunklen Holzbalken und Möbel, bis er an einer Anrichte mit einem kleinen bunten Jahrmarktkarussell hängen blieb. Neugierig ging er näher. »Was ist das?«
»Eine Spieluhr«, klärte Jahwe ihn auf. Kaum, dass er es ausgesprochen hatte, fing das Karussell an, sich wie von Geisterhand zu drehen und eine hübsche Melodie erklang.
Tobias lauschte verzückt und setzte, nachdem die Melodie verklungen war, seinen Erkundungsgang fort. Auf einem Beistelltischchen entdeckte er ein nostalgisch anmutendes Telefon mit Wählscheibe. »Wow, ist das schön«, sagte er und fuhr sanft mit den Fingern über die mattschwarze Oberfläche. »Kann man damit auch telefonieren?«
»Ja, sogar bis ganz nach oben«, antwortete Jahwe und zeigte zum Himmel.
Ehe Tobias sich fragen konnte, was Jahwe wohl damit meinte, fiel ihm auf, dass es mit einem Mal verführerisch nach Bratapfel und Vanille duftete. Er drehte sich um und sah, dass der Tisch zwischenzeitlich gedeckt worden war und mit zwei gefüllten Tellern, zwei Tassen und einer großen Kanne voll dampfend heißem Kakao auf sie wartete. Irritiert sah er sich um. Er war sich sicher, dass sein Gastgeber den Raum nicht verlassen hatte. »Wer hat denn den Tisch gedeckt? Sind wir nicht allein?«
Jahwe schmunzelte. »Ich sagte dir ja schon, Meister Abraham erwartet uns.« Er deutete mit dem Kinn auf den ledernen Ohrensessel in einer dunklen Ecke des Raums, der unter einer Stoffbezogenen Stehlampe stand.
Tobias brauchte einen Moment, bis er begriff. Im fahlen Lichtschein der Lampe entdeckte er einen weißen Kater, der es sich auf einer gemusterten Decke auf der Sitzfläche bequem gemacht hatte. Er hatte nur noch ein Auge und auch sein linkes Ohr fehlte zur Hälfte. Sein verbliebenes Auge, mit dem er Tobias aufmerksam beobachtete, umgab ein schwarzer Fellkranz, sodass es aussah, als trüge er ein Monokel. Trotz seines lädierten Äußeren strahlte der Kater eine enorme Würde aus.
»Willst du mich veräppeln?«, fragte Tobias. »Ein Kater soll den Tisch gedeckt und das Essen zubereitet haben?« Er schüttelte sich vor Lachen.
»Abraham ist nicht irgendein Kater«, korrigierte ihn Jahwe mit einem nachsichtigen Lächeln. »Abraham ist schon sehr alt und viel weiser als die meisten Menschen.«
Tobias schaute skeptisch drein, denn so recht glauben mochte er nicht, was Jahwe ihm da erzählte. Ein Kater, der weiser sein sollte als Menschen und Dinge vollbringen konnte, die kein Tier beherrschte. So etwas gab es doch nur im Märchen. Auf der anderen Seite wunderte ihn bald nichts mehr. Denn bis vor Kurzem hatte es auch dieses Haus und die geheimnisvolle Allee, die zu ihm führte, nie gegeben. Träumte er vielleicht mit offenen Augen? Er blinzelte ein paar Mal kräftig und kniff sich dabei in seine rechte Wange, wie es seine Mutter immer tat, wenn er ihr nicht zuhörte. Doch als er die Augen wieder weit öffnete, befand er sich noch immer inmitten des kleinen Fachwerkbaus.
»Wie alt ist Abraham denn?«, wollte er wissen.
»Oh, Abraham ist schon seeehr alt - mehrere tausend Jahre«, antwortete Jahwe, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt.
»Was? Mehrere tausend Jahre! . . . Und du?«, entfuhr es Tobias. »Bist du etwa auch schon so alt?«
Doch Jahwe lächelte wieder nur sein unergründliches Lächeln und wies auf den Tisch. »Setzt dich doch, mein Junge. Wir wollen doch nicht, dass der Bratapfel und die Schokolade kalt werden, oder?«
Folgsam setzte sich Tobias hin und fing wortlos an zu essen. Der Bratapfel schmeckte köstlich nach Zimt, Marzipan, Nüssen und Vanille und der Kakao war so herrlich süß, dass es ihm vorkam, als sei er im Paradies. Vergessen war die Kälte, vergessen war das Holz, das er zu Hause abliefern musste, ja, selbst an seine Mutter dachte er in diesem Moment nicht.
Als sie mit Essen fertig waren, klingelte plötzlich das schwarze Telefon. Doch Jahwe machte keine Anstalten aufzustehen. »Geh ruhig dran. Es ist für dich«, sagte er zu Tobias.
»Für mich? ... Aber es weiß doch niemand, dass ich hier bin.«
»Nun geh schon.«
Verdutzt stand Tobias auf und führte den schweren Hörer an sein Ohr. »Hallo?«, fragte er unsicher und starrte in die Sprechmuschel, als fürchte er, ein Geist könne herausspringen.
»Hallo Tobias . . . Ich spreche doch mit Tobias, oder?«, hörte er eine tiefe männliche Stimme. Es klang, als käme sie aus ganz weiter Ferne. Tobias nickte, obwohl der Anrufer ihn ja nicht sehen konnte, aber vor lauter Aufregung hatte es ihm die Sprache verschlagen.
»Kann es ein, dass du dir etwas von ganzem Herzen wünscht?«, erkundigte sich der Mann.
»Ich . . . mir etwas wünschen? . . . Was meinen Sie?«.
»Denk einmal scharf nach«, forderte der Mann ihn freundlich auf.
Doch Tobias verstand nicht, worauf sein Gesprächspartner hinauswollte.
»Ein Fahrrad vielleicht?«, half ihm jener schließlich auf die Sprünge.
»Ein Fahrrad! Oh, ja, ein Fahrrad hätte ich tatsächlich wahnsinnig gerne, so eins wie mein Freund Andy hat - himmelblau, mit Ledersattel, Sportlenker und gelben Katzenaugen zwischen den Speichen, die im Dunklen leuchten«, rief Tobias begeistert aus. »Aber woher wissen Sie das?«, fragte er. »Ich habe meiner Mama nie davon erzählt. Sie hat nämlich kein Geld, um mir etwas zu schenken, schon gar nicht ein teures Fahrrad«, fügte er bekümmert hinzu.
»Ich sehe schon, du bist ein braver Junge und willst deiner Mutter keinen Kummer bereiten«, sagte der fremde Mann.
In dem Moment fiel Tobias siedend heiß ein, dass seine Mutter ja auf ihn wartete. Entsetzt wandte er sich an Jahwe. »Wie spät ist es? Ich habe völlig vergessen, dass ich nach Hause muss, um das Holz zu bringen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach er wieder in den Hörer. »Danke, lieber Mann. Aber ich muss jetzt los.« Hastig legte er auf und eilte an seinem Gastgeber vorbei durch die Stube zur Tür. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um. »Tschüss, Jahwe, und danke für alles«, rief er und stürmte davon.
»Tschüss, mein Junge, lauf nur«, sagte Jahwe und winkte ihm hinterher.
So schnell ihn seine Beine trugen, lief Tobias nach Hause. Die Glocken läuteten fünf Mal, als er die Tür zu ihrer Wohnung aufriss. Doch statt ihn auszuschimpfen, weil er über eine Stunde zu spät gekommen war und kein Holz mitgebracht hatte, schloss ihn seine Mutter zur Begrüßung in die Arme. »Da bist du ja. Wie schön. Ich habe schon auf dich gewartet«, sagte sie und drückte ihn fest an ihr Herz.
»Mama, es tut mir leid, dass ich zu spät bin. Aber du glaubst nicht, was mir passiert ist -«, fing Tobias atemlos an.
Doch seine Mutter unterbrach ihn. »Du musst dich nicht entschuldigen. Komm lieber mit, ich habe etwas für dich.« Sie geleitete Tobias zum Wohnzimmer. Bevor sie die Klinke in die Hand nahm, zögerte sie einen Moment und bedachte ihren Sohn mit einem zärtlichen Blick. Dann öffnete sie die Tür.
Tobias glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Mitten im Zimmer funkelte ihm ein nagelneues Fahrrad entgegen, himmelblau, mit einem ledernen schwarzen Sattel und einem Sportlenker, genau so, wie er es sich immer gewünscht hatte. In den Katzenaugen spiegelten sich die Flammen, die im Kamin brannten, neben dem sich nicht nur frische, trockene Holzscheite stapelten, sondern auch ein Paar warme halbhohe Winterstiefel für ihn standen.
Begeistert stürzte Tobias zu dem zweirädrigen Gefährt. Seine Augen leuchteten, als er mit der Hand über den Sattel strich. »Mama, kannst du mich mal kneifen. Ist das für mich? . . . Woher -«
»Für wen denn sonst?«, fiel ihm seine Mutter lachend ins Wort.
»Aber . . ., aber wir haben doch gar kein Geld -«, setzte Tobias an.
Seine Mutter legte die Finger an die Lippen. »Pst!«, bedeutete sie ihm. »Manchmal geschehen zwischen Himmel und Erde eben Wunder, mein Sohn.«
»Aber -«
»Kein Aber mehr. Freue dich einfach daran. Du hast es dir verdient. Und merke dir: Glaube immer fest an deine Träume. Dann werden sie eines Tages auch wahr.«
Tobias lief zu ihr. »Danke, Mama!«, rief er freudig aus und umklammerte ihre Taille.
»Ein Frohes Fest wünsche ich dir«, erwiderte sie und strich ihm sanft übers Haar, während sie im Stillen dem Himmel dafür dankte, dass er ihr diesen Sohn geschenkt hatte.